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Sport
23.08.2021
24.08.2021 14:35 Uhr

Olympia-Tagebuch: Eine heikle Phase

Tagebucheintrag Nr. 4: Intensive Vorbereitung im Motorenblock.
Tagebucheintrag Nr. 4: Intensive Vorbereitung im Motorenblock. Bild: Sandra Stöckli
Die Rapperswiler Athletin Sandra Stöckli befindet sich in den letzten Vorbereitungen für die Paralympics. In ihrem Tagebuch erklärt sie, was ein «Motorenblock» ist und welche Tücken das mit sich bringt.
  • Tagebuch von Sandra Stöckli

«Nachdem ich mich nach der Hitzeakklimatisation zwei Tage erholen konnte, ging es Schlag auf Schlag weiter mit dem Motorenblock.

Was ist das?

Ein Motorenblock ist ein äusserst intensiver Abschnitt, in welchem ich über mehrere Tage hinweg täglich zwei Intervall-Trainings absolviere, womit ich innert kurzer Zeit viele Trainingsstunden auf meinem Konto habe. Ein solcher Motorenblock ist unvorstellbar belastend für den Körper, denn man geht bei jedem Training über die Grenzen hinaus. Man ist im mentalen Bereich ebenfalls sehr gefordert, da der Kopf nach einem abgeschlossenen Intervall gleich wieder für das nächste Training bereit sein muss.

Was bringt das?

Der Grund für dieses Intensivtraining ist, dass ein solcher Block nochmals einen grossen Schub gibt, gerade in Anbetracht der immer näher rückenden Paralympischen Spiele. Man muss jedoch aufpassen, dass man nicht zu viele Motorenblöcke macht: Man sagt pro Jahr sind so etwa zwei das Maximum. Den Block für die Paralympischen Spiele haben ich und mein Team natürlich genaustens geplant und vorbereitet mit all den Erfahrungen, welche wir in den letzten Jahren mit solchen Blöcken gesammelt haben. Das heisst, der Zeitpunkt des Motorenblocks, die Dauer etc. waren nicht einfach per Zufall so gewählt, sondern genaustens abgestimmt, angelehnt an die eben erwähnten Erfahrungen.

Drei Tage in Nottwil

Für den Motorenblock war ich drei Tage in Nottwil, wo ich zusammen mit meinen Trainern trainiert habe. Bei solch intensiven Trainings ist es immer gut, jemanden an der Seite zu haben, der einen pusht. Da ich im Rennen jedoch auch alleine bin, habe ich auch mehrere Trainings ohne jegliche «Begleitung» absolviert. Ich habe mich richtig gequält und habe fest gelitten und nach den Trainings war ich jeweils echt am Ende – doch das war ja das Ziel.

Wie läuft ein Motorenblock ab?

In Nottwil habe ich in einem Hotel übernachtet, wodurch die alltäglichen Haushaltsarbeiten wegfielen und ich mich so mehr auf die Regeneration fokussieren konnte. Am Morgen stand ich relativ früh auf, da zwischen dem Essen und dem ersten Training sicher etwa zwei bis zweieinhalb Stunden liegen sollten. Im Zimmer bereitete ich mich jeweils schon mental vor, bereitete meinen Schlachtplan vor und wärmte meine Lungen mit einem speziellen Atemgerät auf.

Nur kurze Entlastungsphasen

Das erste Intervall Training fand auf dem sogenannten Zyklus statt (siehe Video) – ein sehr harter Intervallblock. Ich musste zehn Mal mit Belastung «all in» fahren und hatte zwischendurch nur sehr kurze Pausen, heisst, ich konnte mich von Belastung zu Belastung nicht komplett erholen. Erfreulicherweise kam mein Puls in den Entlastungsphasen jeweils immer gut runter. Gegen Ende wurde es immer härter und härter, da lief sogar mein Mundwerk nicht mehr, was eine Seltenheit ist (😉).

Die Trainings an sich sind eigentlich sehr kurz, etwa 1 Stunde und dann ist es vorbei – dadurch, dass es aber Intensivtrainings sind, ist man nach dieser Stunde absolut ausgepowert.

De-Briefing und Vorbesprechung

Nach dem Training gab es jeweils ein De-Briefing mit meinem Trainer, wo wir das Training besprachen, ein Fazit zogen und auch schon das nächste Training vorbesprachen. Kaum auf dem Zimmer kam bereits der Anruf von meinem Nationaltrainer, welcher alles über mein Befinden und meine Resultate vom erledigten Intervall wissen wollte.

Nachmittags-Training alleine

Nach dem Training am Morgen ging ich essen und ich erholte mich im Bett oder im Lymphomat. Am Nachmittag ging es weiter mit dem Training, in welchem ich allein war. Hier trainierte ich auf der Strasse, wo ich etwa eineinhalb Stunden wie eine Verrückte auf einer Geraden von etwa drei Kilometern hin und her gefahren bin.

  • Am Nachmittag trainierte Sandra Stöckli jeweils alleine auf der Strasse. Bild: Sandra Stöckli
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  • Bild: Sandra Stöckli
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Besuch bei der Ernährungswissenschaftlerin

Nach dem Duschen musste ich gleich weiter zu meiner Ernährungswissenschaftlerin, wo ich zusammen mit ihr nochmals meinen Ernährungsplan für Tokio anschaute und noch ein paar Änderungen vornahm. Aktuell ist es einerseits natürlich sehr wichtig, dass ich genügend Energie zu mir nehme, andererseits will man das Gewicht natürlich relativ tief behalten – doch ich darf aber auch nicht zu leicht sein. Es brauchte also auch viel Vorbereitung, um das optimale Gewicht zu erreichen.

Letzter Halt: Nationalmannschaftsmechaniker

Danach ging es weiter zu meinem Nationalmannschaftsmechaniker, welcher auch in Tokio dabei sein wird. Er hat in den letzten Wochen sehr viel Zeit in meine Velos investiert: Er hat die Bikes bis auf die letzte Schraube auseinandergenommen, alles kontrolliert und gegebenenfalls auch Teile ersetzt. Meine beiden Velos sind nun wirklich bereit und zwei schwarze, echte Rennmaschinen – ich freue mich riesig, mit diesen an den Paralympischen Spiele zu fahren.

Fehler werden ausgemerzt

Es ist fast nicht vorstellbar, wie viel Zeit nur schon in die Vorbereitung vom Material fliesst. Man kann sich sicher sein, dass alles in Ordnung ist und plötzlich findet man dann doch noch einen Fehler. Zum Beispiel: Ich habe einen Textilüberzug für über meinen Carbon-Sitz. Dieser Überzug ist exakt auf die Masse von meinem Sitz abgestimmt. In der Hitzekammer ist dieses Textil, welches man mit 30 Grad waschen kann, einfach geschrumpft und man musste dies nun wieder anpassen.

  • Bei ihren Velos arbeitet Sandra Stöckli auch viel selber dran. Bild: Sandra Stöckli
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  • Bild: Sandra Stöckli
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  • Bild: Sandra Stöckli
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Bis ins Detail vorbereitet

Ich bin nun top vorbereitet. Nebst meinem kontrollierten Material habe ich für die Ernährung einen richtigen Marschplan, mit welchem ich genau weiss, wann ich was an Getränken und Essen zu mir nehmen muss und worauf ich mich in den Vortagen in Tokio konzentrieren muss. 

Ein extrem schmaler Grad

Meinen Trainern und mir ist bewusst, dass ich mich in einer heiklen Phase, auf einem extrem schmalen Grad befinde – wenn es jetzt nämlich kippt, also wenn es zu viel wird mit den Trainings, können wir das bis zu den Paralympischen Spielen nicht mehr auffangen. Deshalb werde ich von meinen Trainern genaustens beobachtet und auch meine Werte werden genaustens ausgewertet und analysiert, um den Absprung von diesem Motorenblock nicht zu verpassen und so optimal für die Paralympischen Spiele vorbereitet zu sein.»

Im nächsten Tagebucheintrag fliegt Sandra Stöckli nach Tokio, wo es dann schon bald mit den Paralympischen Spielen losgehen wird.

Linda Barberi, Linth24