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Leserbrief
Kanton
13.12.2022
13.12.2022 14:28 Uhr

Eskalation im Mumienstreit

Peter Fux (Screenshot)
Peter Fux (Screenshot) Bild: youtube
Peter Fux, Direktor des Historischen und Völkerkundemuseums St.Gallen, kritisiert Milo Rau für sein Vorhaben, die Mumie Schepenese aus der Stiftsbibliothek zu entfernen.

«Das ist eine persönliche Stellungnahme. Dies, weil ich mich als ausgewiesene Fachperson direkt angegriffen fühle von einer in allen Aspekten verwerflichen populistischen Aktion, die schamlos und aus grenzenloser Selbstverliebtheit heraus eine der wertvollsten Kulturinstitutionen angreift – und damit unserer Kultur ganz grundsätzlich den Kampf ansagt. So geht es nicht.

Es ist höchste Zeit, dieser Wokeness-Welle entschieden entgegenzutreten.

Seit Juni 2021 darf ich das Historische und Völkerkundemuseum St.Gallen leiten. Als Archäologe war ich zwanzig Jahre lang international tätig. Meine Projekte hatten nebst der Wissenschaft alle auch das erklärte Ziel, in Kooperation mit lokalen Archäologen die Kulturen der Menschheit zu erforschen und die auf uns überkommenen Güter zu sichern und schützen. Ob in Peru, Honduras oder Bhutan: Wo immer ich tätig war, waren die Projektziele vielfältig: Kulturgüterschutz, Wissensbildung, Wissensaustausch und Vermittlung waren gleich gewertet.

Ich kuratierte mehrere erfolgreiche archäologische Sonderausstellungen im In- und Ausland, stets in enger Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Promoviert habe ich über das Thema der internationalen Praxis in der Archäologie und den internationalen Kulturgüterschutz. Neben meiner Tätigkeit als Museumsdirektor bin ich in der universitären Lehre tätig. Letzteres seit zehn Jahren. Kurz: Ich darf mich im Thema zu den ausgewiesenen Fachpersonen und Wissenschaftlern zählen. Nicht so Theatermensch Milo Rau.

Milo Rau bedient sich aller gerade gängigen Reizthemen.

Nackt sei sie, die Schepenese in der Stiftsbibliothek St. Gallen, die arme Frau liege unpassend kontextualisiert neben der Bibel und man müsse sogar bezahlen, um sie sehen zu dürfen – böser Kapitalismus. Gestohlen habe man sie den Ägyptern. Rau inszenierte ein sogenanntes Ritual für Schepenese, just anlässlich seiner kantonalen Kulturpreisübergabe. Also bitte: Ordinärer geht es ja wirklich nicht.

Es muss allen klar sein: Es geht nicht um Schepenese, es geht um Milo Rau.

Wichtig ist ihm einzig seine Publicity. Sonst kennt er gar nichts. Ihm gelten keinerlei moralische Hemmschwellen. (Würde man ihm auf der selben Ebene entgegnen wollen, müsste man sagen: Da bedient sich ein selbstverliebter Mann an einer hilflos da liegenden Frau.) So funktioniert billiger Populismus. Dass Rau dann mitten im Wahlkampf eine politische Partei bedient bzw. instrumentalisiert, macht es noch perfider und schwieriger.

Mit der Frage nach dem angemessenen Umgang mit Kulturgütern beschäftigen sich die Fachpersonen schon sehr lange, intensiv und auf hohem Niveau. Es gibt ein vorzügliches Vereinbarungswerk, an dem sich zahlreiche Länder orientieren. Die UNESCO hat mehrere Konventionen hervorgebracht, die für Kulturgüterstreit- und -besitzfragen wichtigste ist wohl die Konvention von Paris 1970. Die Konventionen werden von den Ländern in ihre Gesetze umgesetzt.

Die Schweiz hat 2003 ein vorbildliches Kulturgütertransfergesetz erarbeitet, basierend auf der UNESCO-Konvention von Paris 1970. Sie hat seither mit zahlreichen Ländern bilaterale Vereinbarungen getroffen, so auch 2010 mit Ägypten. Wer nun denkt, ich argumentiere hier auf der rein juristischen Ebene und umschiffe moralische Steine des Anstosses: Viele meiner Projekte zum Erhalt und zur Erschliessung von archäologischem Kulturgut im Ausland waren aufgrund ebendieses Kulturgütertransfergesetz und über die Fachstelle Internationaler Kulturgütertransfer des Bundes entscheidend finanziert und unterstützt. Die Schweizer Praxis funktioniert.

Da braucht es keinen Theatermacher, der sich unkundig des Themas bedient.

Zur Schepenese der Stiftsbibliothek von St.Gallen: Die Bibliothek zählt seit 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist zweifelsfrei eine der schönsten Bibliotheksräume weltweit. Schepenese verkörpert nicht zuletzt die Verbundenheit unserer europäischen Kulturgeschichte mit dem alten Ägypten. Kulturell gebildeten Menschen muss man nicht erläutern, wie stark prägend die Bindung und ihre Nachklänge sind, wie sehr Religion, Musik, Philosophie, Archäologie, Geschichte und Literatur mit dem alten Ägypten untrennbar in enger Verbindung stehen.

Seit der Römerzeit ist das alte Ägypten ein Orientierungspunkt für Bildung und Kultur in unserer Region. Es spielt auch in der Bibel eine wichtige Rolle, auch wenn Rau das nicht zu wissen scheint. Ägyptische Antiquitäten gehörten in das renaissancezeitliche Studio ebenso wie in die Bibliotheken und Museen – und so liegt Schepenese seit nunmehr zweihundert Jahren in der Stiftsbibliothek.

Sie ist nicht nur durchaus sinnvoll kontextualisiert und sorgfältig aufbewahrt, sondern auch mustergültig erforscht. So wissen wir einiges über sie zu erzählen. Sie ist über die wissenschaftliche Auseinandersetzung und Präsenz im Leben, in unserem Leben. Und das ist schön und gut so. (Bei Interesse empfehle ich die Bücher von Aleida und Jan Assmann.)

Selbstverständlich findet der Aktivist Milo Rau leicht seine Anhängerschaft

Er findet sie hier und in Ägypten. Schliesslich lässt sich mit einer angestrebten Rückführung von angeblich kulturellem Eigentum viel Lärm machen und Aufmerksamkeit gewinnen. Das lässt sich in politischen Eigennutz umwandeln, was die Populisten nur zu gut wissen. Sie entscheiden sich gegen eine ehrliche Auseinandersetzung und für den effekthascherischen Weg der Hetze.

Das alles geht auf Kosten des kultivierten, niveauvollen Umgangs, auf Kosten von Ordnung und Frieden – und einer ernst gemeinten Auseinandersetzung mit tiefgreifenden kulturellen Fragen. An Milo Rau und Anhängerschaft gerichtet: Nein, so geht es nicht.»

Peter Fux, Peter Fux, Direktor des Historischen und Völkerkundemuseums St.Gallen