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Leserbrief
Kanton
30.10.2023
30.10.2023 17:22 Uhr

Das Wachstum der Glocken

Schweizer Kühe tragen mittlerweile bis zu 10 Kilogramm schwere Glocken – mit Auswirkungen auf das Verhalten der Tiere. (Themenbild)
Schweizer Kühe tragen mittlerweile bis zu 10 Kilogramm schwere Glocken – mit Auswirkungen auf das Verhalten der Tiere. (Themenbild) Bild: Pixabay: Marcel Langthim
Wie Kirchen- wurden auch Tierglocken im Laufe der Jahrhunderte grösser: Antike römische Glocken waren wenige Zentimeter gross und höchstens 50 g schwer, heute wiegen sie bis 10 kg.

2015 hat die IG Stiller bei ihrer Aktion gegen die Verwendung grosser Treicheln bei der Weidehaltung drei solcher Fälle den Veterinärämtern von St. Gallen und Appenzell vorgelegt. Diese haben die Fälle geprüft und sind zum Schluss gekommen, dass diese nicht grundsätzlich gegen das Tierschutzgesetz sei. Einzig wenn es dadurch zu Verletzungen kommt – wie etwa eine Schürfwunde durch den Glockengurt – würde das Tierschutzgesetz übertreten.

Die Resultate der ETH/EMPA-Studien (John 2015, Johns 2017) wurden dabei offensichtlich nicht berücksichtigt. In diese Studien wurde der Einfluss einer mittelgrossen, 5.5 kg schweren Glocke auf das Verhalten der Tiere untersucht. Dieses hat sich dramatisch verändert: Tiere, welche die Glocke tragen mussten, liegen nicht nur vier Stunden weniger, sie kauen auch zwei Stunden weniger und essen eine Stunde weniger.

Interessanterweise wurde kurz nach der Aktion die Tierschutzverordnung präzisiert: Lärm gilt seither als übermässig, wenn er beim Tier Flucht-, Meide-, Aggressionsverhalten oder Erstarren hervorruft und sich das Tier der Lärmquelle nicht entziehen kann. Wenn eine Kuh weniger isst, weniger kaut und weniger liegt so ist dies doch ein Meideverhalten. Die Kuh vermeidet gewisse Stellungen und Aktivitäten, weil die Glocke dabei stört.

Die im 20. Jahrhundert eingeführten Subventionen für die Landwirtschaft hat dem Wachstum der Glocken und Schellen einen wichtigen finanziellen Schub gegeben. Ebenso wichtig waren Anstrengungen von Anwohnern, welche diesen Lärm nicht vertragen haben. Auf Klagen reagieren Bauern nicht selten mit noch mehr und noch grösseren Glocken und Schellen.

Im Folgenden werden der Einfluss grosser Schellen und Glocken auf Würde und Wohlergehen der Tiere sowie der Begriff «Instrumentalisierung» der Tierschutzgesetzgebung diskutiert. Auch soll aufgezeigt werden, dass sich die Tradition der Tierglocken dramatisch verändert hat.

Tierschutzgesetz und Tierschutzverordnungen

Das Tierschutzgesetz hat den Zweck, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen. Würde: Eine Belastung liegt vor, wenn dem Tier insbesondere Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden, es in Angst versetzt oder erniedrigt wird, wenn tiefgreifend in sein Erscheinungsbild oder seine Fähigkeiten eingegriffen oder es übermässig instrumentalisiert wird. Das Wohlergehen der Tiere ist namentlich gegeben, wenn die Haltung und Ernährung so sind, dass ihre Körperfunktionen und ihr Verhalten nicht gestört sind und sie in ihrer Anpassungsfähigkeit nicht überfordert sind sowie Schmerzen, Leiden, Schäden und Angst vermieden werden; Wer mit Tieren umgeht, hat, soweit es der Verwendungszweck zulässt, für ihr Wohlergehen zu sorgen.

In der Tierschutzverordnung wird unter anderem «übermässiger Lärm» geregelt: Tiere dürfen nicht über längere Zeit übermässigem Lärm ausgesetzt sein. «Lärm gilt als übermässig, wenn er beim Tier Flucht-, Meide-, Aggressionsverhalten oder Erstarren hervorruft und sich das Tier der Lärmquelle nicht entziehen kann.» 

Würde

Tiere werden ohne Glocken geboren. Wenn sie gezwungen werden Glocken zu tragen, wird ihnen die Würde genommen. Beim Menschen ist es auch so. Sklaven mussten teilweise Glocken tragen aber freiwillig machen das nur Narren und Kinder – und dann nur kurzfristig. Würde eine erwachsene Person mit einer Glocke um den Hals spazieren gehen, würde er als würdeloser Spinner betrachtet. Das zeigt auch folgende Strophe eines Innerrhoder Ratzliedes: «Ond wenn i di Alt mol satt ha, so wais i waserä tuä. I legärä ä schellä a ond heb si för ä Chuä.»

Treichler werden nicht als würdelos empfunden, weil sie aktiv Krach machen, die Treicheln nicht um den Hals, sondern in den Händen tragen und mit dem Lärm ihre Stärke demonstrieren. Sie tragen sie auch nicht längerfristig. Die Kuh mit Glocke hingegen ist dem Lärm hilflos ausgesetzt, sie macht in weder absichtlich noch willentlich, sondern muss in einfach ertragen – genauso wie das Gewicht der Glocke.

Wohlergehen

Wenn Kühe Glocken von 5.5 kg tragen müssen, wird die Liegezeit der Tiere um vier Stunden pro Tag vermindert (Johns 2015). Eine verkürzte Liegezeit wurde auch bei einer Studie beobachtet, bei welcher Kühe über 3 Wochen mehrmals täglich 90 dB ausgesetzt wurden (Kovalcik 1971). Auch Karibus, die Fluglärm von Militärflugzeugen ausgesetzt waren, lagen in Reaktion auf eine erhöhte Lärmbelastung weniger (Luick 1992). Lärm scheint also die Liegedauer dieser Tiere grundsätzlich zu verringern. Eine Verkürzung der Liegedauer in Verbindung mit einer Zunahme des Müssigganges gelten als Indikatoren für Kuhbeschwerden (Haley 2000). Genau das passiert aber: die Tiere liegen nicht nur vier Stunden weniger, sie kauen auch zwei Stunden weniger und essen eine Stunde weniger.

Zudem wurde in auch nachgewiesen, dass Kühe bei einem Lärm von 85 dB signifikant schneller fliehen als bei 65 dB und dass Herzfrequenz und Herzfrequenzvariabilität eine erhöhte sympathische Aktivierung während der Exposition gegenüber 85 dB im Vergleich zu 65 dB zeigen (Johns 2017). Das heisst Lärm stresst.

Da der Lärm grosser Glocken bis über 110 dB betragen kann (Johns 2015) und der Mensch bei lauten Arbeiten schon ab 85 dB einen Gehörschutz tragen muss, kann bei grossen Glocken eindeutig von einem übermässigen Lärm gesprochen werden.

Wenn der Verwendungszweck es zulässt, hat der Besitzer für das Wohlergehen der Tiere zu sorgen. Da auch kleinere oder mittlere Glocken helfen würden, ein entlaufenes Tier wieder zu finden und da bewiesen wurde, dass grosse Glocken das Verhalten der Tiere ändern, kann festgestellt werden, dass es der Verwendungszweck es zulässt auf grosse Glocken zu verzichten. (Damit möchten wir nicht behaupten, dass der ursprüngliche Verwendungszweck der Glocken das Wiederfinden im Nebel ist – wir argumentieren hier damit, weil das aus Bauernkreisen allgemein als Zweck der Glocken genannt wird.)

Übermässig instrumentalisiert

Die Kühe mit übergossen Glocken werden offensichtlich für machtpolitische resp. werbetechnische Zwecke missbraucht. Eine Instrumentalisierung liegt vor, weil die Verwendung (grosser) Glocken nicht nötig ist. Dies wird bewiesen durch die Tatsache, dass viele Landwirte ohne Glocken arbeiten und andere mit kleinen oder mittleren Glocken auskommen. Als grosse Glocken bezeichnen wir hier Treicheln, welche ein Gewicht von über 5 kg haben. Auf diese sind die Erkenntnisse der Studie von Johns und Mitarbeitern (Johns 2015) übertragbar. Tiere, die solche grossen und schweren Instrumente tragen, werden in ihrem natürlichen Verhalten gestört: Diese Tiere liegen durchschnittlich nicht nur vier Stunden weniger, sie kauen auch zwei Stunden weniger und essen eine Stunde weniger. Innerschweizer Treicheln können ein Gewicht von bis zu 10 kg und eine Höhe von 46 cm haben. (www.steiner-metalland.ch/default.asp?m=274). Berner Treicheln gibt es bis zu 17 kg Schwere und 58 cm Höhe. (www.steiner-metalland.ch/default.asp?m=273)

Bei der Verwendung solcher Glocken geht es nicht um das Wiederfinden im Nebel sondern um Machtpolitik: Tierglocken sind Ausdruck des Stolzes der Bauern. Beim Thema «Streit um Kuhglocken: Tierschutz oder Quälerei?» reagierte der Vorsitzende des Alpwirtschaftlichen Vereins im Allgäu, Franz Hage, empört auf den Vorstoss der Tierschützer: «Das ist kompletter Schmarrn.» Die Glocken und Schellen schadeten den Tieren nicht. Der Stolz der Almhirte komme in ihnen zum Ausdruck. «Das ist Tradition im Allgäu und gehört dazu», sagte Hage (Fritz, 2015).

Tradition

Glocken und Schellen war ursprünglich Kultobjekte und dienten als Musikinstrumente (Sir 45,9, 2 Mo 28,33, 2 Sam 6,5).  Später mag es auch in der Werbung eingesetzt worden sein (Sach 14,20) oder zur Dämonenabwehr resp. dem Schutz vor Behexung (Niederberger et Hirtler 2000).

Bei weidenden Tieren wurden gegossene Glocken und geschmiedete Schellen erst später eingesetzt, als Metall und daraus produzierte Artikel für alle erschwinglich wurden. Die Grösse dieser Tierglocken war ursprünglich bescheiden, schon wegen dem ursprünglich hohen Preis des Metalls und der Arbeit

Zu einem übermässigen Gebrauch von Kuhglocken kommt es meist im Zusammenhang mit Lärmklagen. Nicht selten reagiert der Bauer mit noch mehr Glockenlärm auf solche Klagen. Auf jeden Fall reagieren die wenigsten rational: Dies zeigt die Umfrage des Schweizer Bauer (7.7.21). Auf die Frage: «Gab es Beschwerden wegen Kuhglocken?» antworteten 283 Bauern (oder 28 % der an der Umfrage beteiligten Bauern: «Ja, aber Tiere tragen weiter Glocken». Nur 10 % reagierten positiv auf die Klage. 50 % hatten noch keine Klage und 12 antworteten mit: «Meine Tiere tragen keine Glocken». (Schweizer Bauer 7.7.2021 Umfrage: Beschwerden wegen Kuhglocken).

Es ist somit nicht überraschend, dass in Speicher, wo das Thema Kuhglockenlärm zweimal bis ans Bundesgericht getragen wurde, speziell viel und speziell grosse Glocken verwendet wurden. In diesem Dorf wurde auch die Tradition der Stallglocken eingeführt – zu der Zeit als das Bundesgericht den traditionellen Gebrauch der Glocken speziell in der Nacht eingeschränkt hat (Walter Zeller, persönliche Mitteilung). Dank diesem Prozess wurde die damalige Tradition verschiedentlich protokolliert. So in einem Urteil des Obergerichts 1968 (Obergericht 1968), in welchem festgehalten wurde, dass damals auf der Weide maximal 2.5 kg schwere Glocken verwendet wurden.

Nichts macht die übermässige Instrumentalisierung der Kühe deutlicher als die Viehschauen und Alpauf- und Abfahrten bei welchem die Tiere grossen Glocken über Strassen aufmarschieren müssen. Auch hier zeigt sich die spezielle Situation von Speicher. Auf den Werbetafeln für die Viehschau werden keine Kühe abgebildet, sondern drei grosse Treicheln.

Die im 20. Jahrhundert eingeführten Subventionen für die Landwirtschaft haben dem Wachstum der Glocken und Schellen einen wichtigen finanziellen Schub gegeben. Ebenso wichtig waren Anstrengungen von Anwohnern, welche diesen Lärm nicht vertragen haben. Auf Klagen reagieren Bauern nicht selten mit noch mehr und noch grösseren Glocken und Schellen. Wir von der IG Stiller sind nach wie vor überzeugt, dass mit der Verwendung grosser Tierglocken und Treicheln Würde und Wohlergehen der Tiere beeinträchtigt werden und dass die Tiere damit übermässig instrumentalisiert werden.

Quellen

Johns J, Masneuf S, Patt A, Hillmann E. Regular Exposure to Cowbells Affects the Behavioral Reactivity to a Noise Stimulus in Dairy Cows. Front Vet Sci. 2017;4:153. Published 2017 Sep 29. www.frontiersin.org/articles/10.3389/fvets.2017.00153/full

Kovalcik K, Sottnik J (1971) Effect of noise on the milking efficiency of cows. [Vplyvhluku na mliekovu uzitkovost krav.] Zivocisna Vyroba 16 (10/11): 795–804.

Luick BR, Kitchens JA, White RG, Murphy SM (1996) Modeling energy and reproductive costs in caribou exposed to low flying military jet aircraft. Rangifer 9: 209–211.

Haley DB, Rushen J, de Passille AM (2000) Behavioural indicators of cow comfort: activity and resting behaviour of dairy cows in two types of housing. Can J Anim Sci 80: 257–263.

Fritz, A. Streit um Kuhglocken: Tierschutz oder Quälerei? Agrarheute. 25.8.2015 www.agrarheute.com/tier/rind/streit-um-kuhglocken-tierschutz-quaelerei-441720

Niederberger HP, Hirtler C: «Geister, Bann und Herrgotts­winkel» Brunner Verlag 2000.

www.schweizerbauer.ch/tiere/milchvieh/umfrage-beschwerden-wegen-kuhglocken/

Bezirksgericht Mittelland: Urteil des Bezirkgerichtes Mittelland vom 4. Januar 1968 in Sachen Emil Büechi gegen Ernst Zeller.

Auer J: Berufungsantwort an das Schweizerische Bundesgericht in Sachen Heinrich E. Büechi gegen Walter Zeller vom 17. März 1975.

Dr. Samuel Büechi