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Schmerikon
19.03.2023
19.03.2023 07:04 Uhr

«Hilflos ausgeliefert»

Stefan Bischof
Stefan Bischof Bild: zVg
Stefan Bischof (*1989) aus Schmerikon studiert heute Betriebsökonomie. Und dies, obwohl er keine richtige Schulbildung genossen hatte.Teil2 der Serie über Stefans Leidensweg.

Im ersten Teil unseres Gesprächs mit Stefan Bischof («Geh und häng Dich auf») berichtete der heute in Goldbach Lebende, was er in der Klinik Sonnenhof Ganterschwil und im Schulheim Michlenberg Rehetobel erleben musste. Im zweiten Teil berichtet er nun, wie es nach den beiden Institutionen weiterging.

Stefan Bischof, wie haben Sie es doch noch geschafft, eine schulische Bildung zu erreichen?
Wir hatten ein indisches Adoptivkind namens A. im Schulheim Michlenberg, das schon ein Jahr früher draussen war. A. besuchte uns eines Tages und stolperte dabei im Altpapier über vertrauliche Unterlagen. Soviel mir ist, waren da auch Heimberichte über die Insassen dabei. A. wurde als einziges Kind im Schulheim Michlenberg gefördert, auch interessierte er sich stark für die Schweiz und ihre Gesetze. Er war empört, was er in den Unterlagen zu Gesicht bekam, weshalb er sich mit der Unterstützung seines Onkels an die Aufsichtsstelle, das damalige Erziehungsdepartements in Herisau wandte. Uns Kindern hat A. versprochen, dass er uns hilft, hier herauszukommen. Zu diesem Zweck traf er sich mit den Eltern gewisser Insassen. Die einen waren entsetzt, weshalb sie ihr Kind sofort abholten. Leider waren dabei meine Eltern nicht einsichtig und ich musste weiter im Heim verweilen. Daraufhin organisierte A. einen Notunterschlupf in Rehetobel, bei einer gutmütigen Erziehungsperson privat in deren Wohnung. Wenn alles reisse, dürften wir ihn jederzeit privat aufsuchen.

Ebenfalls wurde Ihnen geraten, ein Mobbingtagebuch zu verfassen.
Ja, diesen Ratschlag habe ich wahrgenommen. Dabei habe ich handschriftlich jedes einzelne Fehlverhalten der Erziehungspersonen mit Tatbeschrieb, Ort und Zeitpunkt festgehalten. Da ich nicht dumm war, dachte ich mir, die Erziehungspersonen würden im Zweifel alles abstreiten und das Kind wäre sicherlich nicht die überlegene Person. Deshalb liess ich das Mobbingtagebuch von zwei weiteren Insassen unterschreiben. A. sagte mir, ich soll alles an ihn senden und er werde es zusammen mit seiner Beschwerde an das Erziehungsdepartement weiterleiten. Was er auch getan hat: Innert kürzester Zeit stand der Ausserrhoder Erziehungsdirektor in meinem Zimmer und wollte mich über die Geschehnisse befragen. Leider stand dabei der Schulleiter, D. A., direkt hinter seinem Rücken und hörte jedes Wort mit. Deshalb habe ich mich nicht getraut, etwas zu sagen, da ich befürchtete, die Machenschaften von D. A. würden danach noch schlimmer werden. Später wurde ich einfachheitshalber vom Schulheim Michlenberg verwiesen – mit Beschuldigungen, ich hätte Akten entwendet, mich nicht mehr korrekt verhalten usw.

Wissen Sie, wie es mit den Personen weiterging, die damals für Sie zuständig waren?
Nachdem die Erinnerungen aufgekommen waren, habe ich mich danach erkundet. Die damalige Leitung der Klinik Sonnenhof ist verstorben. Der Heimleiter des Schulheims Michlenberg hat sich privat der Familienberatung gewidmet, später arbeitete er als Jugendarbeiter in Weinfelden, in Rorschacherberg, in Gossau, zuletzt im Asylamt in Herisau. Aktuell hat er ein Gästehaus in Südfrankreich eröffnet mit dem Motto: «Time-out für Jugendliche und Erwachsene».

Was denken Sie darüber?
Mir stösst das sehr sauer auf, dass ein Mensch, der mitverantwortlich ist für meinen Leidensweg, seine Karriere auf dem Buckel der Kinder aufbauen konnte. Mir wird richtig schlecht, wenn ich dabei an den sozial schwächsten Teil der Bevölkerung denke, genau jene, die sich nicht wehren können und noch heute einer solchen Person hilflos ausgeliefert sind.

Trotz Ihrer schwierigen Kindheit haben Sie eine Lehre als Polymechaniker abgeschlossen und sich zum technischen Kaufmann und zum diplomierten Betriebswirtschafter weitergebildet. Ihr Leidensweg ist aber noch nicht zu Ende. Wogegen und wofür kämpfen Sie heute?
Aktuell bin ich noch an der Aufarbeitungsphase meiner verlorenen Kindheit. Die Kindheitserinnerungen bis zum 13. Lebensjahr konnte ich gut anhand von Schriftstücken rekonstruieren. Es bleiben jedoch noch viele Fragen offen aus der Zeit im Schulheim Michlenberg. Dazu habe ich meine Akten eingefordert; leider kam seitens des Departements für Soziales in Herisau lediglich die Rückmeldung, dass sie nichts mehr in ihren Akten führten … Auch sind noch viele Fragen offen: Was ist mit meinem Mobbingtagebuch passiert? Wieso hat man demzufolge nicht die Polizei eingeschaltet? Wieso hat das Schulheim Michlenberg nach einer kurzen Betriebszeit von lediglich drei Jahren schon wieder schliessen müssen? Was sind die Ergebnisse der Untersuchung der Aufsichtsbehörde? Wieso sind einige involvierte Parteien plötzlich schwerreich geworden? Wieso können sich involvierte Parteien bei einer solch gravierenden Geschichte sich nicht mal erinnern, dass sie dort gearbeitet haben?

Haben Sie das Gefühl, dass Sie hier ernst genommen werden?
Ich war aktuell bei etwa sechs Ärzten, jedoch weigerten sich die meisten, mir in schriftlicher Form zu bestätigen, was mit mir passiert war. Die Meinungen der Ärzte sind zudem komplett diagonal; während die einen überzeugt waren, es läge mit Sicherheit keine posttraumatische Belastungsstörung vor, bestätigten dies die anderen. Ernst genommen fühle ich mich nicht. Ich habe mich deshalb von den Ärzten verabschiedet und besuche genau den Psychologen, der zu Kindheitszeiten den Kindern geholfen hat, erst im Sonnenhof Ganterschwil, später auch im Schulheim Michlenberg Rehetobel. Denn er kann mir mit Sicherheit Aufschlüsse geben über meine verlorene Kindheit und mir weitere Fragen beantworten.

Worauf führen Sie das eigenartige Verhalten der Ärzte zurück?
Meine seelische Reputation, wenn man so sagen will, wurde massiv geschädigt durch die fehlbaren Berichterstattungen der Klinik Sonnenhof. Es ist kaum möglich, eine Art Zweitmeinung einzuholen, ohne dass ein Arzt die Kindheitsakte hinzuzieht, deren offensichtlich falschen Begebenheiten zur Grundlage nimmt und mich teilweise gar beschuldigt, ich hätte in meiner Kindheit dies und das angestellt, obwohl ich mich stets korrekt verhalten habe.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
In der Aufarbeitung meiner verlorenen Kindheit habe ich viele weitere ehemalige Patienten der Klinik Sonnenhof und des Schulheims Michlenberg kontaktiert und mich mit weiteren Betroffenen ausgetauscht. Leider musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass sich trotz der weiteren Erforschung der menschlichen Psyche und des Ausbaus der KESB nichts geändert hat. Es gibt Patienten, die von der «schlimmsten Zeit ihres Lebens» berichten und dass sie möglichst versuchen, die Erinnerungen zu verdrängen. Das sind möglicherweise die Nächsten, die durch die Psychiatrie Sonnenhof traumatisiert werden. Die Kinder sind die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die sich gegenüber den Erwachsenen kaum durchsetzen können. Daher hoffe ich auf das Wohl einer solidarischen Gesellschaft, dass man sich intensiver mit den Kindern beschäftigt und auch ihre Wünsche abholt – und natürlich darauf, dass man Anstalten, die mit Kindern arbeiten, auch richtig prüft und überwacht.

Stefan Bischof ist in Schmerikon am Zürichsee aufgewachsen. Er wurde als Kind durch den Vater physisch und psychisch misshandelt. Mit 13 wurde er in die Psychiatrie Ganterschwil, die Klinik Sonnenhof, eingewiesen, die ihn später nach Rehetobel in das Schulheim Michlenberg abschob. Dort wurde Bischof, neben dem er keine richtige Schulbildung geniessen durfte, durch den Schulleiter körperlich und seelisch misshandelt. Als er sich zur Wehr setzte, wurde er entlassen und durfte dann eine richtige Schule besuchen, er war gar Klassenbester. Da er vorher keine richtige Schulbildung geniessen durfte, bildete Bischof sich anschliessend stets weiter, vom Polymechaniker zum technischen Kaufmann, dann zum Betriebswirtschafter und aktuell an der Ostschweizer Fachhochschule zum Betriebsökonom. Auf seinem beruflichen Lebensweg habe er wegen der Fremdplatzierungen immer wieder seine Arbeitsstellen verloren. Heute lebt Stefan Bischof in Goldach und erhält ein Taggeld der IV.

Alle Namen im Interview mit Stefan Bischof sind der Redaktion bekannt.

Stefan Ziegler, StGallen24