Matthias Mitterlechner, wie ist es um den Gesundheitsstandort Ostschweiz derzeit bestellt?
Das Ostschweizer Gesundheitssystem ist exzellent – die Wartezeiten sind gering, die Qualität ist hoch und die Bevölkerung ist sehr zufrieden. Aber es steht vor grossen Herausforderungen, unter anderem wegen dem demografischen Wandel, der Zunahme chronischer Erkrankungen, der Spezialisierung in der Medizin, neuen Erwartungen der Gesundheitsfachleute an ihren Beruf und wegen einer wachsenden Schere zwischen den medizinisch-technischen und finanziellen Möglichkeiten.
Im Kanton St.Gallen ist die Zahl der Spitäler ein grosses Thema. Der Kantonsrat ist auf die Linie der Regierung eingeschwenkt und möchte die Zahl der Spitäler reduzieren – ein guter Entscheid?
Die Spitalplanung ist ein wichtiger Baustein der Gestaltung des Gesundheitswesens. Sie kann aber nicht isoliert betrachtet werden, denn die skizzierten Herausforderungen erfordern Massnahmen, die weit darüber hinausgehen. Sie erfordern künftig noch mehr Zusammenarbeit zwischen den Spitälern und vor- und nachgelagerten Leistungserbringern wie Hausärzten, Spezialisten, Apotheken, Pflege, Rehabilitation und Sozialdiensten.
Die wachsende Zahl älterer Menschen mit chronischen Leiden, in die bereits heute rund 80 Prozent der Ausgaben fliessen, sind auf Vernetzung zwischen diesen Akteuren angewiesen. Nehmen wir als Beispiel eine ältere, pflegebedürftige Frau mit Herzproblemen und früher Demenz: Eine qualitativ hochwertige und effiziente Betreuung dieser Patientin gelingt nur, wenn die Akteure hre Leistungen koordinieren. Die Politik ist gefordert, Fehlanreize zu minimieren und günstige Rahmenbedingungen für Vernetzung zu schaffen.
Bisher sind die Bestrebungen, die Zahl der Spitäler zu reduzieren, schliesslich am Widerstand der Bevölkerung gescheitert – wieso soll das diesmal anders sein?
Entscheide dieser Tragweite müssen von der Bevölkerung als sinnvoll und legitim erachtet werden, was hohe Anforderungen an die Kommunikation stellt. Tendenziell steigen die Chancen, dass fundamentale Veränderungen akzeptiert werden, wenn die Betroffenen genügend Gelegenheit erhalten, an der Zukunft ihrer regionalen Versorgungskette aktiv mitzuarbeiten. Dadurch kann in der Bevölkerung eine gemeinsame Vorstellung der Versorgungsherausforderungen und Szenarien einer Zukunft ohne Spital vor Ort entstehen. Wenn die Betroffenen den Entscheidungsprozess als legitim erleben und sinnvolle bedarfsorientierte Alternativen sehen, können sie Spitalschliessungen eher akzeptieren.
Menschen in ländlichen Gebieten fürchten bei einem Abbau um die Grundversorgung. Können Sie das verstehen?
Das ist nachvollziehbar. Deshalb braucht es parallel zu Spitalschliessungen eine Vorstellung, wie die Grundversorgung durch alternative Angebote und neue Formen der regionalen und überregionalen Zusammenarbeit im Netzwerk gesichert werden kann. Die Schliessung von Spitälern betrifft aber nicht nur medizinische Fragen, sondern auch die wirtschaftliche und kulturelle Identität ländlicher Gebiete.
Weil Spitäler oft die grössten Arbeitgeber sind, werden Schliessungen von Sorgen um die ökonomische Zukunft begleitet. Zudem sind ländliche Regionen häufig auch vom Verlust anderer Infrastrukturen wie Bildung, Verwaltung oder Post betroffen, was Fragen der Lebensqualität vor Ort aufwirft. Diese Aspekte beeinflussen auch die Diskussion um Spitalschliessungen.
Gleichzeitig rennen aber alle in ein Zentrumsspital, wenn es um eine anspruchsvollere Operation geht. Hört hier die Solidarität mit dem Spital vor der Haustüre auf?
Das ist kein Widerspruch. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung medizinischen Wissens kann ein ländliches Regionalspital nicht das volle Leistungsspektrum anbieten. Gehen die Bedürfnisse eines Patienten über die Grundversorgung hinaus, kann das Zentrumsspital eine sinnvolle Alternative sein.
Wir steuern auf einen Pflegenotstand zu, die Menschen werden immer älter und haben komplexere Krankheiten als früher. Spricht das für eine Zentralisierung der Alterspflege?
Künftig wird es eher darum gehen, ein vernetztes Angebot aus Prävention sowie ambulanter und stationärer Pflege zu gestalten. Prävention wird wichtiger, damit ältere Menschen lange autonom zu Hause leben können. Ich denke hier zum Beispiel an präventive Hausbesuche, um Stürze zu vermeiden. Benötigt jemand Pflege, können zunächst die Möglichkeiten der Angehörigen und der ambulanten Pflege ausgeschöpft werden. Pflegende Angehörige können mit Schulungs- und Entlastungsangeboten unterstützt werden. Die stationäre Langzeitpflege ist der letzte Schritt.
Eine Beratungsstelle koordiniert die Leistungserbringer in diesem abgestuften Angebot, um mit Angehörigen und Patienten fortlaufend tragfähige Lösungen zu finden. Eine Koordination der Aktivitäten ermöglicht zudem, knappes Fachpersonal flexibel und ressourcenschonend einzusetzen.
Im Kanton St.Gallen gibt es mit dem Kantonsspital ein Spitzenspital, das gegenüber kleineren Spitälern als Arbeitgeber viel attraktiver ist. Was wären hier zukunftsgerichtete Modelle?
Gesundheitsfachleute wählen ihre Arbeitgeber nicht nur nach Grösse und Standort. Es gibt auch regelmässig Talente, die einen kleineren, aber kooperativen Kontext suchen, in dem sie abseits von Spitalpolitik «gute Medizin» machen können. Gelingt es einem kleineren Spital, diese kulturellen Bedingungen zu schaffen, hat es im Rennen um qualifiziertes Fachpersonal gute Chancen.
Die Universität St.Gallen bietet neu das Programm «Joint Medical Master an». Hilft das, den Gesundheitsstandort St.Gallen für Fachpersonal attraktiver zu machen?
Der Master hat zum Ziel, genügend Mediziner für die Ostschweiz auszubilden. Er wird von der HSG in Kooperation mit der Universität Zürich, dem Kantonsspital St.Gallen, der Fachhochschule St.Gallen und anderen Partnern angeboten. Durch diese Kooperation und den Lehrplan, der regionale Lehrveranstaltungen und Praktika vorsieht, trägt er viel zur Attraktivität des Gesundheitsstandorts bei.
Gerade bei den Hausärzten herrscht ein Mangel. Ein aussterbendes Modell?
Hausärzte spielen in der künftigen Gesundheitsversorgung eine zentrale Rolle, weil sie die wachsende Zahl von Patienten mit komplexen Bedürfnissen ganzheitlich sehen und Leistungen mit anderen Akteuren koordinieren können. Ein Auslaufmodell ist der Hausarzt als Einzelkämpfer, der rund um die Uhr verfügbar ist. Dieses Modell widerspricht den Erwartungen der jüngeren, tendenziell weiblicheren Generation. Sie organisiert sich eher in ambulanten Gesundheitszentren, was neue Kooperationsformen und flexiblere Arbeitszeiten ermöglicht.
Die Digitalisierung macht in der Medizin rasante Fortschritte. So könnte ein Computer mithilfe künstlicher Intelligenz viel schneller einen Tumor finden als ein Radiologe. Ist das die Zukunft?
Die Digitalisierung bietet enormes Potenzial nicht nur in der Diagnostik, sondern auch in Prävention, Therapie und Nachsorge. Gleichzeitig ist die medizinischpflegerische Wertschöpfung aber nicht programmierbar wie in einer Autofabrik, d. h. menschliche Entscheide werden auch künftig eine wichtige Rolle spielen. Das gilt besonders in Situationen, in denen unter grosser Unsicherheit und widersprüchlichen Erwartungen entschieden werden muss, zum Beispiel wenn zwischen einer älteren Person, Angehörigen und Fachleuten unterschiedliche Vorstellungen über das optimale Pflegesetting aufeinanderprallen.
Aktuell köcheln die Ostschweizer Kantone ihre eigenen Süppchen – der Kanton St.Gallen strebt für das Spital Walenstadt mögliche Kooperationen mit Glarus und Chur an. In Appenzell ist derzeit wieder ein eigenes Spital geplant, wenn auch in kleinerem Rahmen. Auch der Thurgau fährt separat. Wo sehen Sie hier mögliche Modelle?
In der Schweiz sind die Kantone für die Organisation des Gesundheitswesens verantwortlich. Künftig könnte man noch stärker erwägen, in Regionen zu denken und die Versorgungsketten je nach Bedarf einer regionalen Bevölkerung kantonsübergreifend zu entwickeln. Das stellt allerdings hohe Anforderungen an die Kooperationsfähigkeit zwischen Politik, Bevölkerung und Leistungserbringern.
Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Wo steht die Ostschweizer Spitallandschaft in fünf Jahren?
Aufgrund der vielen Akteure und widersprüchlicher Erwartungen sind Reformen im Gesundheitswesen Generationenprojekte, die sich schnell über zehn oder zwanzig Jahre ziehen. In fünf Jahren wird man aber einen Schritt weiter sein und die Vernetzung vorantreiben, um die hohe Qualität der Versorgung im Kontext grosser Herausforderungen auch in Zukunft zu erhalten.