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Kanton
22.05.2024

«Ich habe nicht vergewaltigt»

Cem Kirmizitoprak
Cem Kirmizitoprak Bild: zVg
Der St.Galler SP-Politiker Cem Kirmizitoprak machte Schlagzeilen, weil er wegen eines «Vorfalls» aus der SP austrat. StGallen24 bringt neue Details ans Licht und konfrontierte die SP.

«Ich war in sie verliebt.» Damit eröffnet der Ex-SP-Politiker Cem Kirmizitoprak das Gespräch. Verliebt war er, doch in wen? Und warum will er sich öffentlich darüber äussern?

Die Geschichte beginnt im vergangenen Herbst.

Da kam ans Licht, dass ein «unangemessener Vorfall» zwischen Cem und einer Mitarbeiterin der Beratungsstelle Inklusion, geleitet von Cem, stattgefunden haben soll. Zum Schutze ihrer Persönlichkeit wird die Betroffene fortan nur als S.M. bezeichnet. Eine Stellungnahme seitens SP liess nicht lange auf sich warten.

«Ich war in S.M. verliebt und bin es auch heute noch», sagt der Kurde. Super verstanden haben sie sich. Doch dieses gegenseitige Verständnis hilft nicht weiter. Denn als die Liebelei ans Licht kommt, wird Cem eigenen Aussagen nach von der Parteileitung aufgefordert, seine damalige Kandidatur für den Kantonsrat zurückzuziehen.

Was bleibt Cem also übrig? Den Stecker gleich selber ziehen und austreten. «Ich wurde aus der Liste gemobbt», liess er damals verlauten. «Die SP sagte, dass sie den Fall nicht beurteilen will – und trotzdem haben sie dies getan», so Cem. «Ich habe ausserdem ein Dreiergespräch vorgeschlagen, aber das haben sie gar nicht thematisiert. Sie seien keine Paartherapeuten.» 

Nicht auslebbare Sexualität

Und davon ist er auch heute noch überzeugt. Der Autor trifft den Politiker am 2. Mai 2024 im Benevol-Park. Der Politiker wirkt reserviert, nachdenklich und nicht mehr annähernd so aufgeschlossen wie früher. Unabhängig davon, ob er jetzt Täter oder Opfer ist – der Fall geht ihm nahe. Die Schuldfrage soll den dafür zuständigen Personen überlassen werden.

Wie erwähnt spricht man bei der SP von einem «unangemessenen Vorfall». Dass man nach aussen hin keine Details nennt, liegt auf der Hand. Doch auch intern schien man lange Zeit zu schweigen: «Ich wusste von keinen konkreten Vorwürfen.» Eine Straftat gibt es laut Cem nicht. Doch habe er noch bis am 1. Mai 2024 gedacht, «dass ich S.M. sexuell belästigt habe».

Zwei Gespräche haben mit der Partei stattgefunden – das letzte davon Anfang Mai. «Immerhin weiss ich jetzt, was mir vorgeworfen wird.» Nämlich, dass er die Person tatsächlich belästigt habe. «Das jedenfalls wirft mir die SP vor.» Dennoch ist es für Cem unverständlich, wieso ihm so etwas vorgeworfen wird. «Ich bin im Rollstuhl. Was kann ich einem anderen Menschen schon antun?» Ausserdem betont er: «Ich bin behindert! Meine Sexualität kann ich gar nicht ausleben.»

Geschenke über Geschenke

Auch wenn die Belästigung wohl nicht körperlicher Natur war, so hat sie offensichtlich online stattgefunden – den neuen Medien sei Dank. Dem Autor liegen die Chatverläufe zwischen Cem und S.M. exklusiv vor. Auffallend ist, dass Cem sich sehr oft mehrmals hintereinander bei seinem «Schätzli» gemeldet hat und deren Antworten jeweils eher kurz ausfielen. «Mir war nicht bewusst, dass ich ihr zu viel geschrieben habe», will Cem klarstellen.

«S.M. war verwirrt und hat mich immer wieder mit privaten Problemen angesprochen. Es lag dann an mir, sie abzuholen.» Um sie aufzuheitern, habe er daher immer wieder Geschenke an sie gemacht. «Beispielsweise ein Schminkset, ein Schal und Schuhe.»

Ausserdem habe er sich in einem Buch darüber schlaugemacht, wie er S.M. am besten helfen könne. Auch eine Studienreise soll finanziert worden sein. Schnell hatten die beiden auch privat Kontakt – vorrangig über Whatsapp.

Mit S.M. habe er zum ersten Mal jemanden gefunden, die ihn versteht. «Das Verständnis zwischen uns war gegenseitig. Schnell waren wir ein eingespieltes Team» – und noch schneller wurde daraus eine einseitige Liebe. «Jemand mit einer Behinderung wird schnell abgestempelt und hat Mühe bei der Partnersuche.»

Grenzüberschreitung im Restaurant

Dass diese Liebe einseitig zu sein scheint, fällt Cem wohl nicht auf. «Wir haben viel mit Emojis geschrieben. Dadurch fiel es mir schwer, ihre wahren Gefühle zu lesen. Ich dachte, dass zwischen uns alles gut ist.» Nun, dem war offensichtlich nicht so.

Allgemein ist es Cem wichtig, immer wieder zu betonen, dass die Beziehung zwischen den beiden immer sehr freundschaftlich war und es niemals zu einer sexuellen Handlung gekommen ist.

Doch diese Argumentation wirft Fragen auf. Denn Cem erklärt auch, dass seine Kollegin ihn auch schon aufgefordert haben soll, ihr die Schultern zu massieren. «Ausserdem zog sie immer wieder Kleider an, von denen sie wusste, dass sie ein bestimmtes Gefühl bei mir auslösen.»

Der Höhepunkt soll aber in einem Restaurant erreicht worden sein. «Wir waren gemeinsam unterwegs, als mir auffiel, dass ich ihr zwischen die Beine schauen konnte, ihr Rock war dermassen kurz.» Daher habe er sie darauf angesprochen. War damit vielleicht die Grenze überschritten?

«Ich bin Feminist», sagt Cem Kirmiztoprak Bild: zVg

«Ich hatte Suizidgedanken»

Auf Fotos, die dem Autor exklusiv vorliegen, scheint die Welt jedenfalls in Ordnung zu sein. Die beiden posieren während dem Thurgauer Wahlkampf-Auftakt beispielsweise vor einem Wahlplakat, sind beim Essen abgelichtet und zeigen sie auch bei anderen Tätigkeiten. Und beide sind zu jeder Zeit glücklich.

Gerade mit Blick auf die Fotos leidet Cem weiterhin sehr an der Situation. «Die Leute schauen mich an, als hätte ich sie vergewaltigt, was absolut nicht der Fall ist.» Nach wie vor fühle er sich gemobbt und ausgegrenzt. «Ausserdem hatte ich auch Suizidgedanken und wollte mir das Leben nehmen. Ich bin allen dankbar für alle Menschen, die in dieser schwierigen Zeit hinter mir standen und mich unterstützt haben.»

Doch Akzeptanz und Vorurteilsfreiheit seien nicht selbstverständlich. «Man hat mich abgestempelt; bei der Partnersuche läuft es schwierig.» Und als dann sein Herzblatt im Oktober auch noch seine Beratungsstelle verlässt, bricht für Cem eine Welt zusammen. «Ich konnte es einfach nicht glauben!»

Als Täter gebrandmarkt

In seine Trauer mischt sich schnell auch Wut, die sich gegen die Parteileitung richtet. «Ich sage nicht, dass ich die Vorwürfe nicht ernst nehme. Aber ich finde, dass die SP falsch reagiert. Sie suchte lange nicht das Gespräch mit mir – wohl weil sie viele Feministen in den eigenen Reihen haben.»

Die Partei habe sich eingemischt, nachdem sie wohl von einer unbekannten Drittperson von der Liebelei erfahren habe. «Doch das Problem lösten sie nicht. Stattdessen brandmarkten sie mich als den Täter, ohne das Gespräch zu suchen. Eine Partei darf das nicht entscheiden.»

Stattdessen habe man gewollt, dass Cem sich selber zurückziehe – und dieses Ziel anscheinend auch erreicht. Cem geht sogar so weit und behauptet, dass der Fall von der SP «hochgeschaukelt» werde. «Tatsächlich gab die SP zu, dass S.M. nicht von Belästigung sprach und es lediglich SP-Wording ist.»

Sieht Cem sich also weiterhin als Opfer? Ja. «Als Mann stösst man sehr schnell an eine Grenzverletzung. Das kann ja passieren.» Und er streitet auch gar nicht ab, dass es in seinem Fall zu einer solchen Grenzverletzung gekommen ist. «Doch dass sich die SP einmischt, finde ich nicht richtig. Sie sollte nicht beurteilen dürfen, wer Recht und wer Unrecht hat.»

«Liebe ****** Es ist mir heute klar, dass ich als Arbeitgeber falsch gehandelt habe. Es war mir damals nicht möglich, Privates und Berufliches hinreichend zu trennen. Durch unsere Freundschaft und die tiefen Stellenprozente war mir eine klare Trennung nicht möglich. Dafür entschludige ich mich. Liebe Grüsse, Cem»
Cem Kirmizitoprak in einem Entschuldigungsbrief

Und was sagt die SP dazu?

Bei der SP ist man sich der Thematik bewusst, findet jedoch klare Worte: «Wir als Parteileitung sehen uns nicht in der Rolle, private Konflikte zu klären.» Auch die Vorwürfe, dass man Cem lange Zeit nicht über die Vorwürfe in Kenntnis gesetzt hat, weist die Partei zurück: «Im November fanden persönliche Gespräche mit Herrn Kirmizitoprak statt. Ebenfalls war ein klärendes Gespräch mit Herr Kirmizitoprak und einer Delegation der Parteileitung bei der SP-internen Anlaufstelle gegen Diskriminierung geplant. Dieses Gespräch wurde durch Herr Kirmizitoprak abgesagt.» Folglich sei der Kurde auch nicht als Täter gebrandmarkt worden: «Wir haben ihn nie als Täter bezeichnet.»

Gegenüber dem Vorwurf, dass die SP den Fall hochgeschaukelt und sprichwörtlich aus einer Mücke einen Elefanten gemacht hat, findet die Partei klare Worte: «Das stimmt nicht. Es war uns stets sehr wichtig, die Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten zu schützen. Cem hat den Gang in die Öffentlichkeit selber gewählt.» Er sei ausserdem auch selber ausgetreten, ohne dass es eine Aufforderung seitens Partei gegeben habe.

«Für Auserwählte statt für alle»

Ein Leserbrief an diese Zeitung titulierte vor wenigen Wochen «Für Auserwählte, statt für alle». In diesem Fall schreibt eine Leserin, dass die SP Cem «kaltgestellt» hat, währenddem die mehrfach einschlägig vorbestrafte JUSO-Politikerin Miriam Rizvi weiterhin bei der Partei bleiben darf. (Die JUSO ist eine Jugendpartei der SP.) Das hat sich bis heute nicht geändert. Die Politikerin machte Schlagzeilen, nachdem sie unter anderem eine Restaurantfassade beschmiert hatte. Und das ist nur eine von vielen Straftaten; der Strafbefehl liegt dem Autor vor.

Zu Recht fragt man sich also, wo die SP, resp. deren Jugendpartei JUSO den Unterschied zieht. «Die SP/JUSO/pfg-Fraktion hat Ende März vom laufenden Strafverfahren gegen Miriam Rizvi Kenntnis genommen und an der Fraktionssitzung vom 24. April über eine allfällige Reaktion seitens der Fraktion diskutiert. An dieser hat Miriam Rizvi offen und transparent auf Fragen zu den im Raum stehenden Vorwürfen sowie des ausserparlamentarischen politischen Aktivismus Stellung genommen. Die Fraktion kommt einstimmig zum Schluss, dass im aktuellen Zeitpunkt kein Handlungsbedarf besteht», lässt die SP verlauten.

Rizvi sei ein geschätztes Mitglied der Fraktion, «das für die JUSO ins Stadtparlament gewählt wurde und dort deren Sichtweisen einbringt und durch Vorstösse und Voten wertvolle Debatten anstösst. An dieser Zusammenarbeit möchte die SP/JUSO/pfg-Fraktion aufgrund des laufenden Verfahrens nichts ändern.»

Bei einem solchen Gebaren kann der Verdacht aufkommen, dass bei der SP mit zwei Ellen gemessen wird und verschiedene Menschen verschieden behandelt werden.

Fabian Alexander Meyer, StGallen24