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03.05.2024

Gurken statt Geranien

Ein sonniger Balkon, ohne Zweifel – aber um sich hier aufhalten zu können, muss man oft die Sonnenstoren herunterlassen.
Ein sonniger Balkon, ohne Zweifel – aber um sich hier aufhalten zu können, muss man oft die Sonnenstoren herunterlassen. Bild: Tobias Hoffmann
Balkone werden heute nicht mehr nur für Blumenschmuck, sondern auch für den Anbau von Gemüse genutzt. Aber bevor man im Gartencenter einkaufen geht, ist es sinnvoll, die Besonnung des Balkons zu prüfen.

Tobias Hoffmann

Anfang 2006 kam der Film «Sommer vorm Balkon» von Andreas Dresen in die Kinos. Darin verbringen zwei Freundinnen lange Sommerabende auf einem Balkon eines Mietshauses in Berlin, quatschend und trinkend. Im September des gleichen Jahres publizierte die NZZ einen Artikel mit dem Titel «Das Zimmer im Freien wird immer wichtiger».

Film und Zeitungsartikel zeugen davon, dass vor knapp zwanzig Jahren die Mediterranisierung Mitteleuropas in vollem Gang war. Die Leute namentlich in den dicht bebauten Städten drängten an lauen Abenden ins Freie. Wer einen hatte, verbrachte viel Freizeit auf dem Balkon. Und ganz Privilegierte nahmen die Dachzinne in Beschlag, warfen den Grill an und liessen die Party vom sich rötenden Abendhimmel illuminieren.

Eigenes Gemüse frisch ab Ernte

Noch vor fünfzig Jahren war das anders. Die NZZ zitiert im genannten Artikel das Wohnforum der ETH: «Beim Bau von Balkonen wurde in den 1970er-Jahren punkto Benutzerfreundlichkeit etwa gleich schwer gesündigt wie bei der fehlenden Wärmeisolation.» Etwa um die Jahrtausendwende setzte die grosse Erneuerung ein. Bei Renovationen von Siedlungen wurden neue Balkone angebaut oder bestehende vergrössert, Neubauten ohne Balkone waren gar nicht mehr denkbar.

Häufig zu sehen sind in den letzten Jahren auch eigentliche Loggien, also in die Grundstruktur der Gebäude eingefügte überdachte offene Räume. Dieser Erneuerungsprozess schreitet weiter ­voran. So ist ein kürzlich im «Tagblatt der Stadt Zürich» ausgeschriebenes Bauprojekt recht typisch: «Schneeglöckliweg 54, zwei neue Lukarnen, Ersatz der Dachflächenfenster, rückwärtiger Balkonanbau.»

Die Zeiten des Balkons als Abstellfläche für Gerümpel und stinkenden Müll sind also definitiv vorbei. Und parallel zum Boom der Balkone und der Terrassen entwickelte sich, in den letzten Jahren verstärkt, der Boom des Urban Gardening.

Urban Gardening meint zwar vor allem den Anbau von Obst und Gemüse auf Parzellen mitten im städtischen Gefüge, lässt sich aber auch auf die unzähligen Balkon- und Terrassenflächen übertragen, wo in Töpfen und Hochbeeten Gemüse, Kräuter und Blumen gezogen werden. Während früher ein paar Tröge mit Geranien und Fleissigen Lieschen genügten, stehen heute die Biodiversität und die Freude, selbst produziertes Gemüse frisch ab Ernte essen zu können, im Zentrum.

Weil es offensichtlich ist, dass ein grosser Teil der in die boomenden Städte ziehenden, oft jungen Leute weder die Zeit noch das Know-how haben, aufwendiges Balkongärtnern zu betreiben, hat sich eine eigentliche Ratgeberszene entwickelt. Aufgesprungen ist dabei unter anderem der «Blick», der in den letzten beiden Saisons die Serie «Im Beet mit Blick» ausstrahlte. Eine Gartenexpertin gab auf einem extra hergerichteten Hochbeet­garten auf dem Dach des Ringier-Hauses im Seefeld unzählige Tipps für alle Arbeitsschritte beim Balkongärtnern, auch für Menschen ohne grünen Daumen.

Wie viele Sonnenstunden habe ich?

Nun, wo wir alle langsam aus der Erstarrung des Aprilwinters erwachen, wartet auch der «Tages-Anzeiger» mit Tipps auf. Er empfiehlt uns, vor dem Gang auf den Markt das Mikroklima auf dem Balkon genau zu bestimmen. Dafür sollte man ­einen Tag zu Hause bleiben und die Besonnung beobachten. Mit vier bis sechs Stunden Sonne gilt ein Standort als sonnig, mit drei bis vier als halbschattig und mit weniger als schattig. Dementsprechend sind die Pflanzen auszuwählen. Allerdings bestehen, wie im Artikel festgehalten wird, erhebliche Unterschiede innerhalb des Balkons: Das Balkongeländer, die Bäume in der Nähe, die Struktur des Gebäudes – vieles spielt eine Rolle. Und was der «Tagi» zu erwähnen vergisst: Wer den Balkon geniessen will, muss oft genug die Sonnenstoren herunterlassen. Was zum Beispiel der sonnenhungrigen Tomate nicht besonders behagen dürfte.

Tobias Hoffmann, Zürich24